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Rudolf Steiner

Die Welträtsel und die Anthroposophie
(GA 54)

INNERE ENTWICKELUNG
Berlin, 7. Dezember 1905

In einer großen Reihe von Vorträgen ist hier von den Vorstellungen über die Welt des Übersinnlichen und ihren Zusammenhang mit der Welt des Sinnlichen gesprochen worden. Es ist nur natürlich, daß immer wieder und wieder die Frage auftaucht: Woher stammen die Erkenntnisse von der übersinnlichen Welt? Mit dieser Frage, oder mit andern Worten, mit der Frage nach der inneren Entwickelung des Menschen wollen wir uns heute beschäftigen.

          Innere Entwickelung des Menschen ist hier in dem Sinne gemeint, daß sie das Hinaufsteigen des Menschen zu Fähigkeiten bedeutet, die er sich erwerben muß, wenn er jene übersinnlichen Erkenntnisse zu den seinen machen will. Nun mißverstehen Sie nicht dasjenige, was dieser Vortrag will. Dieser Vortrag ist weit davon entfernt, Regeln oder Gesetze aufzustellen, die etwas mit allgemeiner menschlicher Sittlichkeit oder mit Forderungen, die der allgemeinen Zeitreligion angehören, zu tun haben. Ich muß das ausdrücklich aus dem Grunde bemerken, weil ja immer wieder und wieder in unserer Zeit des Nivellements, wo man so gar keinen Unterschied gelten lassen will zwischen Mensch und Mensch, das Mißverständnis auftaucht, als ob derjenige, der von Okkultismus spricht, irgendwelche allgemeine menschliche Forderungen, sittliche Grundsätze oder dergleichen, die für jeden ohne Unterschied gelten, aufstellte. Das ist nicht der Fall. Auch ist der Vortrag, um den es sich heute handelt, keineswegs ein solcher, den man verwechseln darf mit einem Vortrag über allgemeine Grundsätze der theosophischen Be-

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wegung. Der Okkultismus ist nicht dasselbe wie Theosophie. Die Theosophische Gesellschaft hat nicht allein und gewiß nicht ausschließlich die Aufgabe, den Okkultismus zu pflegen. Es könnte sogar möglich sein, daß derjenige, der sich dieser Theosophischen Gesellschaft anschließt, den Okkultismus ganz und gar verpönt.

          Unter denjenigen Dingen, die in der Theosophischen Gesellschaft gepflegt werden, zu denen auch eine allgemeine Ethik gehört, ist eben auch der Okkultismus, welcher die Kenntnis derjenigen Gesetze unseres Daseins in sich schließt, die sich der gewöhnlichen Sinnesbeobachtung im alltäglichen menschlichen Erfahrungsbereiche entziehen. Keineswegs sind aber die Gesetze solche, die nichts zu tun haben mit dieser alltäglichen Erfahrung. Okkult heißt: verborgen, geheimnisvoll. Es muß aber wieder und wieder betont werden, daß der Okkultismus etwas ist, wozu gewisse Vorbedingungen wirklich nötig sind. Genau so unverständlich wie die höhere Mathematik für den gewöhnlichen Bauern ist, der noch nie etwas davon gehört hat, ist es der Okkultismus für viele Leute unserer Zeit.

          Der Okkultismus hört aber auf, okkult zu sein, wenn man sich seiner bemächtigt hat. Ich habe also damit das Feld des heutigen Vortrags streng begrenzt. Niemand kann also einwenden - und das muß nach den jahrtausendalten Erfahrungen und vielfach gepflogenen Versuchen ausdrücklich betont werden -, die Forderungen, die der Okkultismus aufstellt, können nicht erfüllt werden, sie widersprechen einer allgemeinen Menschenkultur. Von niemandem wird die Erfüllung derselben verlangt. Wenn aber jemand zu mir kommt und die Überzeugungen, die der Okkultismus verschafft, vermittelt haben will, sich aber weigert, sich mit dem Okkultismus zu befassen, so befindet er sich in genau derselben Lage wie der Schulknabe, der eine Glasstange

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elektrisch machen will, sich aber weigert, sie zu reiben. Sie wird eben ohne Reibung nicht elektrisch werden. So ungefähr ist es auch mit dem, der gegen die Praktiken des Okkultismus etwas einzuwenden hätte.

          Niemand wird aufgefordert, Okkultist zu werden, jeder muß freiwillig zum Okkultismus kommen. Derjenige, welcher den Einwand macht, daß wir den Okkultismus nicht brauchen, der braucht sich nicht mit ihm zu befassen. Es ist kein Appell an die allgemeine Menschheit, den der Okkultismus in jetziger Zeit stellt. In unserer gegenwärtigen Kultur ist es außerdem außerordentlich schwierig, sich den Forderungen eines Lebens zu unterwerfen, das die übersinnliche Welt erschließt.

Zwei Vorbedingungen fehlen in unserer Kultur ganz und gar. Die erste Forderung ist die Isolation, das, was man in der Geheimwissenschaft die höhere menschliche Einsamkeit nennt, die zweite ist die Überwindung eines in unserer Zeit in bezug auf die innersten seelischen Eigenschaften aufs höchste gestiegenen, der Menschheit zum großen Teil unbewußten Egoismus.

          Der Mangel an diesen beiden Vorbedingungen macht den Entwickelungsgang des inneren Lebens geradezu zu einer Unmöglichkeit. Isolation oder geistige Einsamkeit ist heute deshalb so schwer möglich, weil das Leben immer mehr und mehr zerstreut, zersplittert, kurz, äußere Sinnlichkeit fordert. In keiner Kultur haben die Menschen jemals so im Äußerlichen gelebt wie gerade in unserer. Und nun bitte ich, wieder alles, was ich sage, nicht als Kritik zu nehmen, sondern lediglich als Charakteristik.

          Selbstverständlich weiß derjenige, der so spricht, wie ich heute spreche, ganz genau, daß das nicht anders sein kann, daß gerade die großen Vorzüge und bedeutenden Errungenschaften unserer Zeit auf diesen Eigenschaften beruhen. Aber

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deshalb ist unsere Zeit so bar jeder übersinnlichen Erkenntnis und bar jedes Einflusses übersinnlicher Erkenntnisse auf unsere Kultur. In andern Kulturen — und es gibt solche — ist der Mensch in der Lage, sein inneres Leben mehr zu pflegen und sich von Einwirkungen des äußeren Lebens zurückzuziehen. Innerhalb solcher Kulturen gedeiht dann das, was man im höheren Sinne inneres Leben nennt. In den morgenländischen Kulturen gibt es das, was man Joga nennt, und diejenigen, welche nach den Regeln dieser Lehre leben, heißt man Jogi. Ein Jogi ist demnach derjenige, welcher die höhere geistige Wissenschaft anstrebt, aber erst, nachdem er sich einen Meister des Übersinnlichen gesucht hat. Keiner wird sie anders suchen als unter der Anleitung eines Meisters, eines Guru. Wenn er diesen gefunden hat, so muß er einen großen Teil des Tages regelmäßig, nicht unregelmäßig, dazu verwenden, ganz und gar in seiner Seele zu leben. Alle Kräfte, die der Jogi zu entwickeln hat, liegen schon in seiner Seele, sie liegen so sicher, so wahr darin wie die Elektrizität in der Glasstange, aus der sie durch Reiben hervorgelockt wird. Wahr ist es, daß kein Mensch aus sich selbst weiß, wie man diese Kräfte hervorruft, wie ja auch kein Mensch von selbst darauf kommt, daß man die Glasstange durch Reiben elektrisch machen kann. Man muß die durch Jahrtausende hindurch gemachten Beobachtungen und die dadurch herausgebildeten geheimwissenschaftlichen Methoden benützen, um die Kräfte der Seele hervorzurufen. Und das ist sehr schwer in unserer Zeit, die von jedem Menschen durch den Daseinskampf fordert, daß er sich zersplittert. Er kommt nicht zu der großen inneren Sammlung, nicht einmal zu einem Begriff von der Sammlung, den man da im Joga hatte. Kein Bewußtsein ist da von der tiefen Einsamkeit, die der Jogi suchen muß. Er muß, wenn auch nur für kurze Zeit, so doch mit ungeheurer Regelmäßigkeit

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jeden Tag dieselbe Sache rhythmisch wiederholen, mit völliger Abgeschiedenheit von alledem, worin man sonst lebt. Es ist notwendig und absolut unerläßlich, daß alles Leben, das uns sonst umgibt, vor dem Jogi erstirbt, daß seine Sinne unempfänglich werden gegenüber allen Eindrücken der Außenwelt. Blind und taub muß sich der Jogi machen können gegenüber der Umwelt für die Zeit, die er sich selbst vorschreibt. So in sich gesammelt muß er sein können — und er muß sich die Praxis in dieser Sammlung erwerben -, daß man eine Kanone neben ihm abschießen könnte, ohne daß er darin, seine Aufmerksamkeit auf das innere Leben zu richten, gestört werden würde. Frei muß er auch werden von , allen, Gedächtniseindrücken, von allen Erinnerungen an das Alltagsleben.

          Nun bedenken Sie, wie außerordentlich schwer diese Vorbedingungen in unserer Kultur herzustellen sind, wie wenig man einen Begriff von solcher Isolation, von solcher geistigen Einsamkeit hat. Dies alles muß man nämlich unter einer Voraussetzung erreichen, nämlich unter der, nie in irgendeiner Weise die Harmonie, das völlige Gleichgewicht gegenüber der Außenwelt zu verlieren. Und das ist außerordentlich leicht möglich bei einer so tiefen Versenkung in sein Inneres. Derjenige, der sich tiefer und tiefer in sein Inneres einlebt, muß gleichzeitig die Harmonie mit der Außenwelt um so klarer herstellen. Nichts, was an Entfremdung, an Entfernung vom äußeren praktischen Leben anklingt, darf bei ihm auftreten, sonst gerät er auf eine schiefe Bahn, sonst wird man vielleicht sein höheres Leben bis zu einem gewissen Grade nicht von Wahnsinn unterscheiden können. Es ist wirklich eine Art Wahnsinn, wenn das innere Leben seine Beziehungen zum äußeren verliert. Denken Sie sich einmal - um Ihnen das an einem Beispiel klarzumachen —, Sie wären klug in bezug auf unsere irdischen Verhältnisse,

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Sie hätten alle Erfahrung und Weisheit, die auf Erden gesammelt werden kann. Sie schlafen abends ein, wachen aber morgens nicht auf der Erde, sondern auf dem Mars auf. Auf dem Mars sind nun aber ganz andere Verhältnisse als auf der Erde. Alle Wissenschaft, die Sie auf der Erde gesammelt haben, nützt Ihnen da ganz und gar nichts. Keine Harmonie ist mehr da zwischen dem, was in Ihrem Inneren lebt und dem, was außer Ihnen vorgeht. Daher würden Sie wahrscheinlich in einer Stunde schon, weil Sie sich in den neuen Verhältnissen nicht zurechtfinden können, in ein MarsIrrenhaus gesteckt werden. Auf eine solche Bahn kann derjenige leicht gelenkt werden, der in der Entwickelung seines Innenlebens den Zusammenhang mit der Außenwelt verliert. Daß dies nicht geschieht, darauf hat man streng zu achten. Alles das sind große Schwierigkeiten in unserer Kultur.

          Das andere Hindernis ist eine Art Egoismus in bezug auf innere seelische Eigenschaften, von denen sich die gegenwärtige Menschheit gewöhnlich keine Rechenschaft gibt. Das hängt eng mit der geistigen Entwickelung des Menschen zusammen. Es gehört nämlich zu den Vorbedingungen der geistigen Entwickelung, daß man sie nicht aus Egoismus sucht. Wer sie aus Egoismus sucht, kann nicht weit kommen. Nun ist aber unsere Zeit bis ins Innere der Menschenseele hinein egoistisch. Man erlebt immer wieder und wieder, daß man zu hören bekommt: Ja, was helfen mir alle Lehren, die im Okkultismus verbreitet werden, wenn ich sie nicht selbst erleben kann? - Wer von dieser Voraussetzung ausgeht und auch nicht von ihr abkommt, kann schwerlich zu einer wirklich höheren Entwickelung kommen, denn zur höheren Entwickelung gehört das intimste Bewußtsein menschlicher Gemeinschaft, so daß es gleichgültig ist, ob ich selbst oder ein anderer diese oder jene Erfahrung mache. Ich muß daher

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dem, der höhere Entwickelung hat als ich, unbegrenzte Liebe und volles Vertrauen entgegenbringen. Erst muß ich mich zu diesem Bewußtsein durchringen, zu dem Bewußtsein unendlichen Vertrauens gegenüber meinem Mitmenschen, wenn er sagt, das und das habe ich erlebt. Solches Vertrauen muß Bedingung des Gemeinschaftslebens sein, und wo auch immer solche okkulten Fähigkeiten in ausgedehnterem Maße herangezogen werden, da ist dieses Vertrauen in grenzenloser Weise vorhanden, da hat man das Bewußtsein, daß der Mensch eine Persönlichkeit ist, in der eine höhere Individualität lebt. Die Grundlage für mich ist also zunächst das Vertrauen und der Glaube, weil wir nicht bloß immer in uns unser höheres Selbst suchen, sondern auch in unseren Mitmenschen. Jeder, der um uns herum lebt, ist seinem innern Wesenskern nach in voller ungeteilter Einheit mit uns.

          Solange es auf mein niederes Selbst ankommt, so lange bin ich von andern Menschen getrennt. Dann aber, wenn es sich um mein höheres Selbst handelt - und nur dieses kann in die übersinnliche Welt hinaufsteigen -, dann bin ich nicht mehr von den Mitmenschen getrennt, dann bin ich ein einheitliches Wesen mit meinen Mitmenschen, dann ist derjenige, der zu mir von den höheren Wahrheiten spricht: ich selbst. Ich muß diesen Unterschied zwischen ihm und mir ganz fallenlassen, ich muß das Gefühl ganz überwinden, daß er etwas vor mir voraus hat. Versuchen Sie sich in dieses Gefühl ganz und gar hineinzuleben, so daß es bis in die intimsten Fäserchen der menschlichen Seele dringt und jeder Egoismus schwindet, und der andere, der weiter ist als Sie, wirklich so vor Ihnen steht wie Ihr eigenes Selbst, dann haben Sie eine der Vorbedingungen begriffen, die dazu gehören, höheres geistiges Leben zu erwecken.

          Sie können es gerade da, wo Anleitung zum okkulten Leben - oftmals sehr verkehrt und irrtümlich - gegeben

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wird, hören: Das höhere Selbst lebt im Menschen, er braucht nur sein Inneres sprechen zu lassen und es wird sich die höchste Wahrheit offenbaren. - Nichts ist einerseits richtiger und andererseits unfruchtbarer, als was da behauptet wird. Der Mensch versuche einmal, seinen inneren Menschen sprechen zu lassen, und er wird sehen, daß in der Regel, auch wenn er sich noch so sehr einbildet, daß sein höheres Selbst zum Vorschein kommt, sein niederes Selbst spricht. Das höhere Selbst finden wir zunächst nicht in uns. Wir müssen es zuerst außer uns suchen. Bei dem, der weiter ist, können wir ein Stück lernen, da wir es da gleichsam anschaulich haben. Niemals können wir von unserem eigenen egoistischen Ich etwas für unser höheres Selbst profitieren. Wo der steht, der weiter ist als ich, da werde ich einst in Zukunft stehen. Der Anlage nach trage ich wirklich den Samen für das, was er ist, in mir. Aber erst müssen sie erhellt sein, die Wege zum Olymp hinauf, damit ich ihnen nachwandeln kann.

          Ein Gefühl, Sie mögen es glauben oder nicht - jeder praktische Okkultist, der Erfahrung hat, wird es Ihnen bestätigen -, ein Gefühl ist die Grundbedingung für alle okkulte Entwickelung, welches in den verschiedenen Religionen erwähnt wird. Die christliche Religion bezeichnet es mit dem bekannten Satze, den man als Okkultist ganz und gar verstehen muß: «Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnt ihr nicht in das Reich der Himmel kommen.» Derjenige versteht den Satz allein, der im höchsten Sinne des Wortes verehren gelernt hat. Nehmen Sie einmal an, Sie hätten in frühester Jugend eine verehrungswürdige Person schildern gehört, eine Persönlichkeit, von der in Ihnen die höchste Vorstellung in einer Richtung erweckt worden ist, und es soll Ihnen die Gelegenheit geboten werden, diese Persönlichkeit näher kennenzulernen. Eine heilige Scheu vor

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dieser Persönlichkeit lebt in Ihnen an dem Tage, der Ihnen den Augenblick bringen soll, wo Sie dieselbe zum ersten Male leibhaftig sehen. Da können Sie, vor der Türe dieser Persönlichkeit stehend, das Gefühl haben, sich zu scheuen, die Klinke zu berühren und die Tür aufzumachen. Wenn Sie so hinaufschauen zu solch verehrungswürdiger Persönlichkeit, dann haben Sie ungefähr das Gefühl begriffen, das auch das Christentum meint, wenn es sagt, daß man werden soll wie die Kindlein, um teilzunehmen am Reiche der Himmel. Es kommt wirklich nicht so sehr darauf an, ob derjenige, an welchen das Gefühl gerichtet ist, es auch in vollem Maße verdient, sondern es kommt darauf an, daß wir die Fähigkeit haben, so recht tief aus unserem Inneren heraus verehrungsvoll zu etwas aufzuschauen. Das ist das Bedeutungsvolle bei der Verehrung, daß man selbst zu dem hinaufgezogen wird, zu dem man aufblickt.

          Das Gefühl der Verehrung ist die erhebende Kraft, die magnetische Kraft, die uns zu den höheren Sphären des übersinnlichen Lebens hinaufzieht. Das ist das Gesetz der okkulten Welt, das sich jeder, der höheres Leben sucht, wie mit goldenen Lettern in seine Seele hineinschreiben muß. Von dieser Grundstimmung des Gemütes aus muß die Entwickelung beginnen. Ohne dieses Gefühl ist überhaupt nichts zu erreichen. Sodann muß derjenige, der innere Entwickelung sucht, sich darüber klar sein, daß er Ungeheueres in bezug auf den Menschen tut. Was er sucht, ist nichts mehr und nichts weniger als eine Neugeburt, und zwar in buchstäblichem Sinne. Die höhere Seele des Menschen soll geboren werden. Und so wie der Mensch bei seiner ersten Geburt geboren worden ist aus den tiefen inneren Gründen des Daseins, wie er hervorgetreten ist zum Lichte der Sonne, so tritt derjenige, der innere Entwickelung sucht, von dem Lichte der Sonne, von dem, was er in der Sinnenwelt erleben

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kann, zu einem höheren geistigen Licht heraus. Es wird in ihm etwas geboren, das in dem gewöhnlichen Menschen, der dabei die Mutter darstellt, ebenso tief ruht wie das Kind in der Mutter, bevor es geboren wird.

          Wer sich der vollen Tragweite dieser Tatsache nicht bewußt ist, der weiß nicht, was okkulte Entwickelung heißt. Die höhere Seele, die zunächst tief, tief in der ganzen Menschennatur steckt und mit ihr verwoben ist, wird herausgeholt. Wenn der Mensch im alltäglichen Leben vor uns steht, sind niedere und höhere Natur miteinander verquickt, und das ist ein Glück für das alltägliche Leben.

          Mancher, der unter uns lebt, würde, wenn er seiner niederen Natur folgte, vielleicht bösartige, schlimme Eigenschaften zutage fördern, aber in ihm lebt, vermischt mit dieser niederen Natur, die höhere, welche jene im Zaume hält. Die Vermischung ist vergleichsweise so, wie wenn wir in einem Glase eine gelbe und eine blaue Flüssigkeit mengen, was eine grüne Flüssigkeit gibt, in der wir Gelb und Blau nicht mehr unterscheiden können. So ist auch im Menschen die niedere Natur mit der höheren vermischt und beide sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Wie Sie dann aus der grünen Flüssigkeit die blaue durch chemische Mittel herausziehen können, so daß nur das Gelbe zurückbleibt und das einheitliche Grün in eine vollständige Zweiheit, in Blau und Gelb getrennt wird, so trennen Sie bei der okkulten Entwickelung die niedere von der höheren Natur. Sie ziehen die niedere Natur aus dem Körper heraus wie den Degen aus der Scheide, die dann für sich allein bleibt. Diese niedere Natur kommt so heraus, daß sie fast schauerlich erscheint. Als sie noch vermischt war mit der höheren Natur, war davon nichts zu bemerken. Jetzt aber, wo sie getrennt ist, treten alle bösartigen, schlimmen Eigenschaften hervor. Menschen, die vorher als wohlwollend erschienen waren, werden

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oft zanksüchtig und neidisch. Diese Eigenschaften saßen früher schon in ihrer niederen Natur, wurden aber von der höheren beherrscht. Das können Sie bei vielen Leuten beobachten, die auf abnormen Wegen geführt werden. Ganz besonders leicht wird der Mensch zum Lügner, wenn er in die übersinnliche Welt eingeführt wird. Er verliert leicht die Fähigkeit, Wahres von Falschem zu unterscheiden. Es gehört notwendig zur okkulten Schulung, daß parallel mit derselben die strengste Schulung des Charakters einhergeht. Das, was die Geschichte der Heiligen als deren Versuchungen erzählt, ist nicht Legende, sondern buchstäbliche Wahrheit.

          Derjenige, welcher sich auf irgendeinem Wege in die höhere Welt hinaufentwickeln will, ist dieser Versuchung leicht ausgesetzt, wenn er nicht die Kraft und die Gewalt der Charakterstärke und eine höchste Moralität in sich entwickelt hat, um alles, was an ihn herantritt, niederhalten zu können. Nicht allein, daß Begierde und Leidenschaften wachsen, das ist nicht einmal so sehr der Fall, sondern — und das erscheint zunächst wunderbar - auch die Gelegenheiten nehmen zu. Wie durch ein Wunder wird derjenige, der in die höhere Welt hinaufsteigt, von Gelegenheiten zum Schlimmen und Bösen umlauert, die ihm vorher verborgen gewesen sind. In jeder Tatsache des Lebens lauert ihm ein Dämon auf, der ihn auf Abwege zu führen sucht. Was er früher nicht gesehen hat, sieht er jetzt. Es zaubert ihm gleichsam die Spaltung seiner Natur überall aus den geheimen Stätten des Lebens solche Gelegenheiten vor. Deshalb wird von der sogenannten weißen Magie, von derjenigen Schule okkulter Entwickelung, die den Menschen in die höheren Welten führt auf gute, echte und wahre Weise, eine ganz bestimmte Charakterbildung als unerläßlich gefordert. Jeder praktische Okkultist wird Ihnen sagen,

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daß niemand durch diejenige engePforte zu schreiten wagen sollte - so nennt man den Eingang zur okkulten Entwickelung -, ohne diese Eigenschaften fort und fort zu üben. Sie sind eine notwendige Vorschule zum okkulten Leben.

          Das erste, was der Mensch entwickeln muß, ist, auf allen seinen Wegen durch das Leben das Unbedeutende von dem Bedeutenden, das Vergängliche von dem Unvergänglichen zu trennen. Diese Forderung ist leicht zu stellen, aber oft schwer durchzuführen. Es ist, wie Goethe sagt, zwar leicht, doch ist das Leichte schwer. Sehen Sie sich zum Beispiel eine Pflanze oder ein Ding an. Sie lernen erkennen, daß jedes Ding eine bedeutende und eine unbedeutende Seite hat und der Mensch meistens an dem Unbedeutenden sein Interesse findet, an der Beziehung der Sache zu ihm oder an einer untergeordneten Eigenschaft. Derjenige, der Okkultist werden will, muß sich allmählich angewöhnen, in jedem Ding eine Wesenheit zu sehen und zu suchen. Er muß, wenn er zum Beispiel eine Uhr sieht, ein Interesse daran haben, welches die Gesetze der Uhr sind. Er muß sie bis ins kleinste hinein zergliedern können und ein Gefühl dafür entwickeln, welches die Gesetze der Uhr sind. Nehmen Sie ferner an, ein Mineraloge betrachtet einen Bergkristall. Er wird schon durch eine äußere Betrachtung zu einer bedeutenden Kenntnis des Kristalls kommen. Der Okkultist aber muß einen Stein in die Hand nehmen und lebendig fühlen können, was etwa in dem folgenden Monolog angedeutet ist: In gewisser Beziehung stehst du unterhalb der Menschheit, aber in gewisser Beziehung stehst du, der Bergkristall, weit über der Menschheit. Unter der Menschheit stehst du, weil du dir von den Menschen keine Bilder durch Vorstellung machen kannst, weil du nicht empfindest. Du kannst nicht vorstellen, nicht denken und lebst nicht, aber etwas hast du vor der Menschheit voraus, du bist in dir selbst keusch,

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hast kein Verlangen, keine Wünsche und Begierden. Jeder Mensch, jedes lebendige Wesen hat Wünsche, Verlangen, Begierden; du hast sie nicht. Du bist vollkommen und wunschlos, zufrieden mit dem, was dir geworden ist, ein Vorbild für den Menschen, mit dem er dann noch seine andern Eigenschaften verbinden muß.

          Kann der Okkultist das recht tief fühlen, so hat er das Bedeutende ergriffen, das ihm der Stein sagen kann. So kann der Mensch aus jedem Ding etwas Bedeutungsvolles schöpfen. Wenn ihm das dann zur Gewohnheit geworden ist, daß er das Bedeutende von dem Unbedeutenden sondert, dann hat er sich ein weiteres der Gefühle angeeignet, die der Okkultist haben muß. Sodann muß er sein eigenes Leben mit dem Bedeutenden verbinden. Darin irren die Menschen besonders in unserer Zeit sehr leicht. Die Menschen glauben sehr leicht, daß der Platz, an dem sie stehen, ihnen nicht gebühre. Wie häufig sind Menschen geneigt zu sagen: Mein Los hat mich an einen Platz gestellt, an den ich nicht passe. Ich bin, sagen wir zum Beispiel Postbeamter. Wenn ich an einen andern Platz gestellt wäre, so könnte ich den Leuten hohe Ideen vermitteln, große Lehren geben und so weiter. — Der Fehler bei diesen Menschen ist der, daß sie ihr Leben nicht an das Bedeutende ihres Berufes anknüpfen. Sehen Sie in mir etwas Bedeutendes, weil ich zu den Menschen hier reden kann, so sehen Sie das Bedeutende in Ihrem eigenen Leben und Beruf nicht. Wenn die Postbriefträger die Briefe nicht wegtrügen, so würde der ganze Briefverkehr stocken, viele Arbeit, die von andern bereits geleistet ist, wäre umsonst.

          Daher ist jeder an seinem Posten von außerordentlicher Wichtigkeit für das Ganze, und keiner ist höher als der andere. Christus hat das am schönsten in geradezu herrlicher Weise anzudeuten versucht im dreizehnten Kapitel

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des Evangeliums Johanni in den Worten: «Der Knecht ist nicht größer denn sein Herr, noch der Apostel größer denn der, der ihn gesandt hat.» Diese Worte wurden gesprochen, nachdem der Meister den Aposteln die Füße gewaschen hatte. Damit wollte er sagen: Was wäre ich ohne meine Apostel? Sie müssen da sein, damit ich da sein kann in der Welt, und ich habe ihnen den Tribut zu bringen, daß ich mich vor ihnen erniedrige und ihnen die Füße wasche. — Da ist einer der bedeutendsten Hinweise für das Gefühl, das der Okkultist für das Bedeutende haben muß. Nicht darf man das äußerlich Bedeutende mit dem innerlich Bedeutenden verwechseln, darauf ist streng zu achten.

          Dann müssen wir eine Reihe von Eigenschaften entwickeln. Dazu gehört in erster Linie, daß wir Herr unserer Gedanken werden, namentlich der Gedankenfolge. Man nennt das Kontrolle der Gedanken. Überlegen Sie sich einmal, wie in der Seele des Menschen die Gedanken hin- und herschwirren, wie sie drinnen herumirrlichtelieren: da tritt ein Eindruck auf, dort ein anderer, und jeder einzelne verändert den Gedanken. Es ist nicht wahr, daß wir den Gedanken in der Hand haben, vielmehr beherrschen uns die Gedanken ganz und gar. Wir müssen aber so weit kommen, daß wir während einer gewissen Zeit des Tages uns in einen bestimmten Gedanken versenken und uns sagen: Kein anderer Gedanke darf in unsere Seele einziehen und uns beherrschen. - Damit führen wir selbst die Zügel des Gedankenlebens für einige Zeit.

          Das zweite ist, daß wir uns in ähnlicher Weise zu unseren Handlungen verhalten, also Kontrolle der Handlungen üben. Dabei ist notwendig, daß wir wenigstens dazu gelangen, ab und zu solche Handlungen zu begehen, zu denen wir durch nichts, was von außen kommt, veranlaßt sind. Alles dasjenige, wozu wir durch unseren Stand, unseren

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Beruf, unsere Stellung veranlaßt sind, das führt uns nicht tiefer in das höhere Leben hinein. Das höhere Leben hängt von solchen Intimitäten ab, zum Beispiel daß wir den Entschluß fassen, ein Erstes zu tun, etwas, was unserer ureigensten Initiative entspringt, und wenn es auch nur eine ganz unbedeutende Tatsache wäre. Alle andern Handlungen tragen zum höheren Leben nichts bei.

          Das Folgende, das dritte, was es zu erstreben gilt, ist die Ertragsamkeit., Die Menschen schwanken zwischen Freude und Schmerz hin und her, sind in diesem Zeitpunkte himmelhoch jauchzend, im andern zu Tode betrübt. So lassen sich die Menschen auf den Wellen des Lebens, der Freude und des Schmerzes schaukeln. Sie müssen aber den Gleichmut, die Gelassenheit erlangen. Das größte Leid, die größten Freuden dürfen sie nicht aus der Fassung bringen, sie müssen feststehen, ertragsam werden.

          Das vierte ist das Verständnis für ein jegliches Wesen. Durch nichts wird schöner ausgedrückt, was es heißt, ein jegliches Wesen zu verstehen, als durch eine Legende, die uns über den Christus Jesus erhalten geblieben ist, nicht im Evangelium, sondern in einer persischen Erzählung. Jesus ging mit seinen Jüngern über Feld, und sie fanden auf dem Wege einen verwesenden Hund. Greulich war das Tier anzusehen. Jesus blieb stehen und warf bewundernde Blicke auf dasselbe, indem er sagte: «Wie schöne Zähne hat doch das Tier.» Jesus hat aus dem Scheußlichen das eine Schöne herausgefunden. Streben Sie, dem Herrlichen überall so beizukommen, an jedem Ding draußen in der Wirklichkeit, dann werden Sie sehen, daß jedes Ding etwas hat, zu dem man ja sagen kann. Machen Sie es wie Christus, der an dem toten Hunde die schönen Zähne bewunderte. Das ist die Richtung, die zur großen Toleranz und zum Verständnis für jegliches Ding und für jedes Wesen führt.

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Die fünfte Eigenschaft ist die volle Unbefangenheit gegenüber allem Neuen, das uns entgegentritt. Die meisten Menschen beurteilen das Neue, das ihnen entgegentritt, nach dem Alten, was ihnen schon bekannt ist. Wenn jemand kommt, um ihnen etwas zu sagen, so erwidern sie gleich: Darüber bin ich anderer Meinung. - Wir dürfen aber einer Mitteilung, die uns zukommt, nicht gleich unsere Meinung gegenüberstellen, wir müssen vielmehr auf dem Ausguck stehen, um herauszufinden, wo wir etwas Neues lernen können. Und lernen können wir selbst von einem kleinen Kinde. Selbst wenn einer der weiseste Mensch wäre, so muß er geneigt sein, mit seinem Urteil zurückzuhalten und andern zuzuhören. Dieses Zuhörenkönnen müssen wir entwickeln, denn es befähigt uns, den Dingen die größtmöglichste Unbefangenheit entgegenzubringen. Im Okkultismus nennt man dies «Glaube», und das ist die Kraft, die Eindrücke, die das Neue auf uns macht, nicht durch das, was wir demselben entgegenhalten, abzuschwächen.

          Die sechste Eigenschaft ist das, was jeder von selbst erhält, wenn er die angeführten Eigenschaften entwickelt hat. Das ist die innere Harmonie. Die innere Harmonie hat der Mensch, der die andern Eigenschaften hat. Dann ist es auch notwendig, daß der Mensch, der die okkulte Entwickelung sucht, das Freiheitsgefühl im höchsten Maße ausgebildet hat, das Freiheitsgefühl, durch das er in sich selbst das Zentrum seines Wesens suchen und auf eigenen Füßen stehen kann, daß er nicht jeden zu fragen braucht, was er zu tun hat, sondern daß er aufrecht steht und frei handelt. Das ist auch etwas, was man sich aneignen muß.

          Hat der Mensch diese Eigenschaften in sich entwickelt, dann ist er über alle Gefahr erhaben, die die Spaltung seiner Natur in ihm bewirken könnte, dann können die Eigenschaften seiner niederen Natur nicht mehr auf ihn wirken,

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dann kann er vom Wege nicht mehr abirren. Daher müssen diese Eigenschaften mit großer Genauigkeit herausgebildet werden. Dann kommt das okkulte Leben, dessen Ausdruck eine gewisse Rhythmisierung des Lebens bedingt.

          Der Ausdruck: Rhythmisierung des Lebens drückt die dazu entwickelte Fähigkeit aus. Wenn Sie die Natur betrachten, so finden Sie in ihr einen gewissen Rhythmus. Sie werden es für selbstverständlich halten, daß das Veilchen alljährlich zur selben Zeit im Frühling blüht, daß die Saat auf dem Felde, die Traube zur selben Zeit am Weinstock reif wird. Diese rhythmische Aufeinanderfolge der Erscheinungen findet sich überall draußen in der Natur. Überall ist Rhythmus, überall Wiederholung in regelmäßiger Folge. Wenn Sie hinaufgehen zu den Wesen, die höher entwickelt sind, sehen Sie immer mehr und mehr diese rhythmische Folge abnehmen. Sie sehen auch beim Tier, noch in höherem Grade, alle Eigenschaften rhythmisch geordnet. Zu bestimmter Zeit des Jahres bekommt das Tier ganz bestimmte Funktionen und Fähigkeiten. Je höher sich das Wesen entwickelt, je mehr das Leben in die eigenen Hände des Wesens gegeben wird, desto mehr hört dieser Rhythmus auf. Sie müssen wissen, daß des Menschen Leib nur eines der Glieder seiner Wesenheit ist. Dann kommt der Ätherleib, dann der Astralleib und endlich die höheren Glieder, die jenen zugrunde liegen.

          Der physische Leib ist in hohem Maße dem Rhythmus unterworfen, dem die ganze äußere Natur unterworfen ist. Wie das Pflanzen- und Tierleben in seiner äußeren Form rhythmisch abläuft, so verläuft auch das Leben des physischen Körpers. Das Herz schlägt rhythmisch, die Lunge atmet rhythmisch und so weiter. Alles dies verläuft so rhythmisch, weil es geordnet ist von höheren Gewalten, von der Weisheit der Welt, von dem, was die Schriften den Heiligen

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Geist nennen. Die höheren Leiber, und namentlich der Astralleib, sind, ich möchte sagen, in gewisser Weise von diesen höheren geistigen Mächten verlassen und haben ihren Rhythmus verloren. Oder können Sie es leugnen, daß Ihre Betätigung in bezug auf Wünsche, Begierden und Leidenschaften unregelmäßig ist, daß sie gar keinen Vergleich aushält mit der Regelmäßigkeit, die im physischen Leibe waltet? Wer den Rhythmus lernt, der in der physischen Natur liegt, der findet darin immer mehr das Vorbild für die Geistigkeit. Wenn Sie das Herz betrachten, dieses wunderbare Organ mit dem regelmäßigen Schlag und seiner eingepflanzten Weisheit, und vergleichen es mit den Begierden und Leidenschaften des Astralleibes, die alle möglichen Aktionen gegen das Herz loslassen, dann werden Sie erkennen, wie nachteilig die Leidenschaft auf den regelmäßigen Gang desselben wirkt. Ebenso rhythmisch aber, wie die Verrichtungen des physischen Leibes sind, müssen die Funktionen des Astralleibes werden.

          Ich will hier etwas anführen, was den meisten der heutigen Menschen grotesk erscheinen wird, und zwar in bezug auf das Fasten Das Bewußtsein von der Bedeutung des Fastens ist uns ganz und gar verlorengegangen. Von dem Gesichtspunkt der Rhythmisierung unseres Astralleibes ist das Fasten aber etwas außerordentlich Sinnvolles. Was heißt Fasten? Es heißt, die Eßbegierde zügeln und den Astralleib in bezug auf die Eßbegierde ausschalten. Der, welcher fastet, schaltet den Astralleib aus und entwickelt keine Eßlust. Das ist so, wie wenn Sie eine Kraft ausschalten in einer Maschine. Der Astralleib ist dann untätig, und die ganze Rhythmik des physischen Leibes und die ihm eingepflanzte Weisheit wirken hinauf in den Astralleib und rhythmisieren denselben. Wie das Siegel von einem Petschaft, so drückt sich die Harmonie des physischen Leibes dem Astralleibe ein

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und sie würde sich viel nachhaltiger übertragen, wenn er nicht immer unregelmäßig gemacht würde durch die Begierden, Leidenschaften und Wünsche, auch durch geistige Begierden und Wünsche.

          Was dem heutigen Menschen notwendiger ist, als das in früherer Zeit der Fall war, das ist, Rhythmus in sein ganzes höheres Leben hineinzubringen. Ebenso wie dem physischen Leibe Rhythmus von Gott eingepflanzt ist, so muß der Mensch seinen Astralkörper rhythmisch machen. Der Mensch muß sich seinen Tag vorschreiben, ihn für den Astralleib so einteilen, wie der Geist der Natur ihn für die niederen Reiche einteilt. Morgens früh, zu ganz bestimmter Zeit, muß man eine geistige Verrichtung machen, zu einer andern Zeit, die wieder streng festgehalten werden muß, eine andere, am Abend wieder eine andere. Diese geistigen Übungen dürfen nicht willkürlich gewählt werden, sondern müssen zur Weiterbildung des höheren Lebens geeignet sein. Das ist eine Art, das Leben in die Hand zu nehmen und in der Hand zu behalten. Setze dir also für morgens eine Stunde fest, wo du dich konzentrierst. Diese Stunde mußt du einhalten. Da mußt du eine Art Windstille herstellen, damit der große okkulte Meister in dir aufwachen kann. Da mußt du meditieren über einen großen Gedankeninhalt, der nichts mit der Außenwelt zu tun hat, und diesen Gedankeninhalt ganz in dir aufleben lassen. Es genügt eine kurze Zeit, vielleicht eine Viertelstunde, es genügen selbst fünf Minuten, wenn man nicht mehr Zeit hat. Es ist aber wert- und zwecklos, wenn man diese Übungen unregelmäßig macht. Macht man sie regelmäßig, so daß die Tätigkeit des Astralleibes regelmäßig wie eine Uhr wird, dann haben sie Wert. Der Astralleib bekommt ein ganz anderes Aussehen, wenn Sie diese Übungen regelmäßig machen. Setzen Sie sich also des Morgens hin und machen Sie diese

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Übungen, so werden sich die Kräfte, die ich Ihnen schilderte, entwickeln. Es muß aber, wie gesagt, regelmäßig geschehen, denn der Astralleib erwartet um dieselbe Zeit, daß dasselbe mit ihm vorgenommen wird, und er gerät in Unordnung, wenn es nicht geschieht. Es muß wenigstens die Gesinnung zur Ordnung vorhanden sein. Wenn Sie in dieser Weise Ihr Leben rhythmisieren, dann müssen Sie die Erfolge in nicht allzulanger Zeit gewahren, nämlich das geistige Leben, das zunächst vor dem Menschen verborgen ist, wird in gewissem Grade offenbar.

          Das Menschenleben wechselt in der Regel zwischen vier Zuständen. Der erste Zustand ist die Wahrnehmung der Außenwelt. Sie schauen mit den Sinnen herum und nehmen die Außenwelt wahr. Der zweite Zustand ist derjenige, den wir Phantasie, Vorstellungsleben nennen können, der etwas Verwandtes mit dem Traumleben hat, sogar dazugehört. Da wurzelt der Mensch nicht in der Umgebung, sondern ist losgelöst von derselben, da hat er keine Wirklichkeiten vor sich, höchstens Reminiszenzen. Der dritte Zustand ist der traumlose Schlaf. Da hat der Mensch gar kein Bewußtsein von dem Ich, und der vierte Zustand ist derjenige, in welchem der Mensch in der Erinnerung lebt. Das ist etwas anderes als Wahrnehmung, das ist schon Abgezogenes, Geistiges. Hätte der Mensch keine Erinnerung, so könnte er überhaupt keine geistige Entwickelung erhalten.

          Inneres Leben fängt an sich zu entwickeln durch innere Beschaulichkeit und Meditation. Da macht der Mensch dann über kurz oder lang die Wahrnehmung, daß er nicht mehr in chaotischer Weise träumt, sondern daß er in höchst bedeutsamer Weise träumt, und daß sich ihm im Traume merkwürdige Dinge enthüllen, die er nach und nach anfängt als Offenbarung geistiger Wahrheiten zu erkennen. Es kann natürlich leicht der triviale Einwand erhoben werden: Das

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ist eben alles geträumt, was geht uns das an? — Wenn aber jemand im Traume den lenkbaren Luftballon entdeckte und ihn dann ausführte, dann hätte dieser Traum eben die Wahrheit enthüllt. So kann also eine Idee noch in anderer als der gewöhnlichen Weise erfaßt werden, und die Wahrheit derselben muß sich dann in der Verwirklichung finden. Wir müssen also von deren innerer Wahrheit von außen her überzeugt werden.

          Die nächste Stufe im geistigen Leben ist die, wo wir die Wahrheit durch unsere eigenen Eigenschaften erfassen und unsere Träume mit Bewußtsein lenken. Wenn wir anfangen, den Traum in regelmäßiger Weise zu lenken, so sind wir auf den Stufen, wo uns die Wahrheit durchsichtig wird. Man nennt die erste Stufe die materielle Erkenntnis, wozu der Gegenstand daliegen muß. Die andere Stufe ist die imaginative Erkenntnis. Diese entwickelt man durch Meditation, durch Gestaltung des Lebens in rhythmischer Weise. Mühsam ist es, sie zu erringen. Ist sie aber erreicht, dann kommt auch die Zeit, wo kein Unterschied mehr ist zwischen Wahrnehmung im gewöhnlichen Leben und Wahrnehmung im Übersinnlichen. Wenn wir zwischen Dingen des gewöhnlichen Lebens sind, also in der sinnlichen Welt, und ändern unseren geistigen Zustand, so erleben wir dann fortwährend die geistige, die übersinnliche Welt, wenn wir uns genügend in dieser Weise trainiert haben. Das ist der Fall, sobald wir imstande sind, wirklich blind und taub zu werden gegenüber der Sinnenwelt, uns an nichts zu erinnern aus dem Alltagsleben und dennoch ein geistiges Leben in uns haben. Dann beginnt unser Traumleben eine bewußte Form anzunehmen. Und wenn wir imstande sind, von diesem etwas hineinzugießen in unser Alltagsleben, dann kommt auch das, was uns die seelischen Eigenschaften der um uns herum sich befindenden Wesen wahrnehmbar macht.

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Wir sehen dann nicht mehr das Äußere der Dinge allein, sondern wir sehen dann auch das Innere, den verborgenen Wesenskern der Dinge, der Pflanzen, der Tiere und der Menschen. Ich weiß, daß die meisten sagen werden: Das sind im Grunde genommen andere Dinge. — Das ist ganz richtig; es sind immer ganz andere Dinge als die, welche der Mensch sieht, der solche Sinne nicht hat. Das dritte ist der Zustand, der sonst ganz leer ist, der aber anfängt belebt zu werden, wenn die Kontinuität des Bewußtseins eintritt. Die Kontinuität kommt ganz von selbst, der Mensch schläft dann nicht mehr bewußtlos. Während der Zeit, wo er sonst schläft, erlebt er dann die übersinnliche Welt.

          Worin besteht sonst der Schlaf? Der physische Leib liegt im Bette und der Astralleib lebt in der übersinnlichen Welt. In dieser übersinnlichen Welt gehen Sie spazieren. In der Regel kann der Mensch mit heutiger Disposition sich nicht weit vom Körper entfernen. Wenn man nun durch Regeln, die die Geisteswissenschaft gibt, für diesen während des Schlafes herumziehenden Astralleib Organe entwickelt hat, wie der physische Leib Organe hat, so fängt er an, während des Schlafes sich bewußt zu werden. Der physische Leib wäre blind und taub, wenn er keine Augen und Ohren hätte, und der Astralleib, der in der Nacht spazierengeht, ist aus demselben Grunde blind und taub, weil er noch keine Augen und Ohren hat. Diese werden ihm aber entwickelt durch die Meditation, sie ist das Mittel zur Heranbildung der Organe. Diese Meditation muß dann in regelmäßiger Weise geleitet werden. Sie wird so geleitet, daß der Leib des Menschen die Mutter und der Geist des Menschen der Vater ist. Der Leib des Menschen, wie er physisch vor uns steht, ist in jedem Glied, das er uns darbietet, ein Geheimnis, und zwar so, daß jedes Glied in bestimmter, aber verborgener Weise zu einer Partie des Astralleibes gehört. Das

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sind die Dinge, die der Okkultist kennt. Er weiß zum Beispiel, wozu der Punkt zwischen den Augenbrauen gehört im physischen Leibe. Er gehört zu einem bestimmten Organe im astralen Organismus, und indem Ihnen der Geheimwissenschafter angibt, in welcher Weise Sie Gedanken, Gefühle und Empfindungen hinlenken müssen zu dem Punkte zwischen den Augenbrauen, dadurch daß Sie irgend etwas, was im physischen Leibe ausgebildet ist, in Zusammenhang bringen mit dem Entsprechenden im Astralleibe, bekommen Sie eine gewisse Empfindung im Astralleibe. Es muß aber regelmäßig geschehen, und man muß wissen, wie. Dann fängt der Astralleib an, sich zu gliedern. Aus einem Klumpen wird er zum Organismus, in dem sich die Organe ausbilden. Die astralen Sinnesorgane habe ich in der Zeitschrift «Lucifer-Gnosis» beschrieben. Man nennt sie auch Lotusblumen. Durch bestimmte Formeln werden diese Lotusblumen ausgebildet. Wenn sie ausgebildet sind, dann ist der Mensch fähig, die geistige Welt wahrzunehmen. Dies ist dann dieselbe Welt, welche er betritt, wenn er durch die Pforte des Todes schreitet. Zuschanden gemacht ist dann der Ausspruch Hamlets, daß von jenem unbekannten Land noch kein Wanderer zurückgekommen ist.

          Sie können also von der sinnlichen Welt in die übersinnliche Welt hineingehen, besser gesagt, hineinschlüpfen, und sowohl da als dort leben. Das ist kein Leben in einem Wolkenkuckucksheim, sondern ein Leben in demjenigen Gebiet, welches uns erst das Leben in unserem Gebiete erklärlich und verständlich macht. So wie ein gewöhnlicher Mensch, der die Gesetze der Elektrizität nicht studiert hat, in eine elektrisch betriebene Fabrik hineingeht, das wunderbare Getriebe sieht und es nicht versteht, so versteht auch der gewöhnliche Mensch nicht das Getriebe der geistigen Welt. Der Unverstand des Fabrikbesuchers besteht so lange,

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als er die Gesetze der Elektrizität nicht kennt. So ist der Mensch auch im Gebiete des Geistigen unverständig, solange er nicht die Gesetze des Geistigen kennt. Es gibt nichts in unserer Welt, das nicht auf Schritt und Tritt von der geistigen Welt abhängig wäre. Alles, was uns hier umgibt, ist äußerer Ausdruck der geistigen Welt. Es gibt keinen Stoff. Jeder Stoff ist verdichteter Geist, und wer in die geistige Welt hineinsieht, dem vergeistigt sich die ganze stofflich sinnliche Welt, die Welt überhaupt. Wie das Eis vor der Sonne zu Wasser schmilzt, so schmilzt vor der Seele, die in die geistige Welt hineinsieht, alles Sinnliche zu einem Geistigen, so offenbart sich allmählich der Urgrund der Welt vor dem geistigen Auge und dem geistigen Ohre.

          In Wahrheit ist das Leben, das der Mensch auf diese Art kennenlernt, das geistige Leben, das der Mensch im Inneren schon fortwährend führt, von dem er aber nichts weiß, weil er sich selbst nicht kennt, bevor er die Organe für die höhere Welt sich entwickelt hat. Denken Sie sich einmal, Sie wären Mensch mit den Eigenschaften, die Sie jetzt haben, hätten aber keine Sinnesorgane. Sie wüßten nichts von der Welt um Sie herum, Sie hätten kein Verständnis für den physischen Leib, und doch gehörten Sie der physischen Welt an. So gehört die Seele des Menschen der geistigen Welt an, weiß es aber nicht, weil sie nicht hört und nicht sieht. Wie unser Körper aus den Kräften und Stoffen der physischen Welt genommen ist, so ist unsere Seele aus den Kräften und Stoffen der geistigen Welt genommen. Wir erkennen uns nicht in uns, sondern erst in unserer Umgebung. So wahr Sie nicht Herz und Gehirn sehen können, ohne daß Sie es durch Ihre Sinnesorgane an andern wahrnehmen — selbst mit Hilfe der Röntgenstrahlen können nur Ihre Augen das Herz sehen —, so wahr ist es, daß Sie Ihre eigene Seele nicht sehen oder hören können, ohne daß Sie sie durch geistige

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Sinnesorgane in der Umwelt erkennen. Sie können sich nur durch Ihre Umwelt erkennen. Es gibt in Wahrheit keine Innenerkenntnis, keine Selbstbeschauung, es gibt nur eine Erkenntnis, eine Offenbarung durch Organe sowohl des physischen als des geistigen Lebens um uns herum. Wir gehören den Welten um uns her an, der physischen, der seelischen und der geistigen Welt. Wir lernen aus der physischen, wenn wir physische Organe haben und aus der geistigen Welt, aus allen Seelen, wenn wir geistige, seelische Organe haben. Es gibt keine andere Erkenntnis als Welterkenntnis.

          Müßig ist es und leere Beschaulichkeit, wenn der Mensch in sich brütet und glaubt, durch bloße Selbstschau irgend etwas erreichen zu können. Den Gott in sich findet der Mensch, wenn er die göttlichen Organe in sich erweckt und dann in seiner Umwelt sein höheres, göttliches Selbst findet, wie er sein niederes Selbst auch nur durch seine Augen und Ohren in der Umwelt finden kann. Wir selbst werden uns klar als physische Wesen durch den Umgang mit der Sinnenwelt, und wir werden uns klar in geistiger Beziehung dadurch, daß wir geistige Sinne in uns entwickeln. Entwickelung des Inneren heißt, sich erschließen für das göttliche Leben in der Außenwelt um uns herum.

          Jetzt werden Sie verstehen, warum es notwendig ist, daß zunächst derjenige, der so, wie ich es beschrieben habe, in die höhere Welt aufsteigt, eine unendliche Festigung seines Charakters zuerst erfährt. Wie die Sinnenwelt ist, kann der Mensch zunächst durch sich selbst erfahren, weil seine Sinne schon erschlossen sind, weil ein gütiger göttlicher Geist, der gesehen und gehört hat in der physischen Welt, in grauester Vorzeit neben dem Menschen gestanden hat, bevor er gesehen und gehört hat und ihm die Augen und Ohren erschlossen hat. Von eben solchen Wesen muß der Mensch heute lernen, geistig zu sehen, von Wesen, die schon

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können, was er lernen muß. Wir müssen einen Guru haben, der uns sagt, wie wir unsere Organe entwickeln' sollen, der uns sagt, was er gemacht hat, daß die Organe sich entwickelt haben. Der, welcher anleiten will, muß sich eine Grundeigenschaft angeeignet haben: die unbedingte Wahrhaftigkeit, und dies ist auch eine Hauptforderung, die an den Schüler gestellt werden muß. Niemand darf zum Okkultisten ausgebildet werden, es sei denn, daß er zu dieser Grundeigenschaft der unbedingten Wahrhaftigkeit vorher ausgebildet wird.

          Gegenüber den sinnlichenErfahrungen kann man prüfen, was gesagt wird. Wenn ich Ihnen aber aus der geistigen Welt etwas erzähle, so müssen Sie Vertrauen haben, weil Sie noch nicht so weit sind, daß Sie es prüfen können. Der, welcher Guru sein will, muß so wahrhaftig geworden sein, daß es ihm unmöglich ist, es leichtzunehmen mit solchen Behauptungen bezüglich der geistigen Welt und des geistigen Lebens. Die Sinnenwelt korrigiert sofort die Irrtümer, welche wir in bezug auf diese Sinnenwelt machen, in der geistigen Welt aber müssen wir jene Richtschnur in uns selbst haben, wir müssen streng trainiert sein, so daß wir nicht gezwungen sind, die Kontrolle durch die Außenwelt zu machen, sondern sie in uns selbst haben. Diese Kontrolle können wir uns nur erwerben, indem wir die strengste Wahrhaftigkeit schon hier in der Welt uns aneignen. Deshalb hatte auch die Theosophische Gesellschaft, als sie begann, einige elementare Lehren des Okkultismus vor die Welt hinauszutragen, den Grundsatz anzunehmen: Kein Gesetz über der Wahrheit. — Wenige verstehen diesen Grundsatz. Die meisten sind damit zufrieden, wenn sie sich sagen können, ich habe das Bewußtsein, daß es wahr ist, und wenn es falsch ist, so sagen sie, ich habe mich geirrt. Der Okkultist darf nicht auf seine subjektive Ehrlichkeit pochen. Da ist

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er auf falscher Fährte. Er muß immer mit den Tatsachen in der Außenwelt übereinstimmen und eine Erfahrung, die dagegen spricht, muß er als Irrtum, als Fehler ansehen. Dafür-Können und Nichts-dafür-Können hört für den Okkultisten auf. Er muß mit den Tatsachen des Lebens in absolutem Einklang stehen. Man muß anfangen, sich im strengsten Sinne für jede Behauptung, die man aufstellt, verantwortlich zu fühlen. Dann erzieht man sich zu der unbedingten Sicherheit, die derjenige für sich und andere haben muß, der ein geistiger Führer sein will.

          So sehen Sie, daß ich Ihnen heute - wir werden über dieses Thema noch einmal sprechen müssen, um die höheren Partien noch hinzuzufügen — eine Reihe Eigenschaften und Verfahrungsarten angeben mußte, die Ihnen zu intim erscheinen werden, um mit andern darüber zu sprechen, die jede Seele mit sich selbst abmachen muß, die Ihnen vielleicht ungeeignet erscheinen, das gewaltige Ziel zu erreichen, das erreicht werden soll, nämlich das Eintreten in die übersinnliche Welt. Diesen Eintritt wird derjenige unbedingt erreichen, welcher den Weg beschreitet, den ich charakterisiert habe.

          Wann? Darüber hat einer der vorzüglichsten Teilnehmer in der theosophischen Bewegung, unser längstverstorbenes Mitglied Subba Row, sich zutreffend ausgesprochen. Er antwortete auf die Frage, wie lange es dauert: Siebenjahre, vielleicht auch siebenmal sieben Jahre, vielleicht auch sieben Inkarnationen, vielleicht auch bloß sieben Stunden. — Es hängt tanz von dem ab, was der Mensch ins Leben mitbringt. Es kann ein Mensch vor uns stehen, der scheinbar ganz dumm ist, der aber ein jetzt verborgenes höheres Leben mitgebracht hat, das nur herausgeholt werden muß. Heute sind die meisten Menschen in okkulter Beziehung weiter, als es scheint, und es würde dies vielen auch bekannt sein,

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wenn unsere materiellen Verhältnisse und unsere materielle Zeit sie nicht so sehr in das innere Leben der Seele zurückschlüge. Ein großer Prozentsatz der Menschen von heute war früher schon weiter. Es hängt von verschiedenen Dingen ab, ob das, was im Menschen ist, herauskommt. Man kann aber einigen Hilfe geben. Denken Sie sich, ein Mensch steht vor mir. In seiner früheren Inkarnation war er eine hochentwickelte Individualität, hat aber jetzt ein unentwickeltes Gehirn. Ein unentwickeltes Gehirn kann manchmal große geistige Fähigkeiten verdecken. Wenn man ihm aber die gewöhnlichen profanen Fähigkeiten beibringt, so ist es möglich, daß auch das innere Geistige herauskommt. Nun hängt es aber nicht bloß hiervon ab, sondern auch von der Umgebung, in welcher der Mensch lebt.

          In ganz bedeutsamer Weise ist der Mensch ein Spiegelbild seiner Umgebung. Nehmen Sie an, ein Mensch ist eine hochentwickelte Persönlichkeit, lebt aber in einer Umgebung, die nur gewisse Vorurteile in ihm erweckt und ausbildet, die dann so energisch wirken, daß die höhere Veranlagung nicht aus ihm herauskommen kann. Wenn ein solcher Mensch nicht jemanden findet, der sie aus ihm herausholt, dann bleibt sie eben in ihm verborgen.

          Nur wenige Andeutungen konnte ich Ihnen hierüber machen; wir werden aber nach Weihnachten nochmals über die weiteren und tieferen Dinge sprechen. Die eine Vorstellung, die ich erwecken wollte, ist die, daß das höhere Leben nicht tumultuarisch ausgebildet wird, sondern ganz intim, in tiefster Seele, und daß der große Tag, an dem die Seele erwacht und in das höhere Leben eintritt, tatsächlich kommt wie der Dieb in der Nacht. Die Entwickelung zum höheren Leben führt den Menschen in eine neue Welt hinein, und wenn er eingetreten ist in diese neue Welt, dann sieht er sozusagen die andere Seite des Daseins, dann eröffnet sich

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ihm das, was vorher für ihn verborgen war. Vielleicht kann es nicht jeder, vielleicht können es nur wenige, so soll sich jeder sagen. Aber das soll ihn nicht abhalten, zunächst wenigstens denjenigen Weg zu betreten, der jedem offensteht, nämlich von den höheren Welten zu hören. In Gemeinschaft zu leben, ist der Mensch berufen, und wer sich absondert, kann zu keinem geistigen Leben kommen. Eine Absonderung im höheren Sinne aber ist es, wenn ich sage: Das glaube ich nicht, das hat keinen Bezug auf mich, das mag für das andere Leben Geltung haben; für den Okkultisten gilt das nicht. Ein Grundsatz ist es für den Okkultisten, die andern Menschen in Wirklichkeit als die Offenbarung seines eigenen höheren Selbstes anzusehen, weil man dann weiß, daß man die andern in sich finden muß.

          Ein feiner Unterschied besteht zwischen den beiden Sätzen «die andern in sich finden» und «sich in den andern zu finden». Das heißt aber im höheren Sinne: Das bist du. - Und im höchsten Sinne heißt es: In der Welt sich selbst erkennen und verstehen das Wort des Dichters, welches ich vor einigen Wochen in anderem Zusammenhange anführen durfte: «Einem gelang es, er hob den Schleier der Göttin zu Sais. — Aber was sah er? Er sah — Wunder des Wunders — sich selbst.» Nicht im egoistischen Innern, sondern selbstlos in der Welt sich finden, ist wahre Selbsterkenntnis.

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12.06.2012 Adresse: www.verlag-dr.de